Wolfgang Winkler

Allergene

Buchstabensalat der Entmündingung

31. 12 2014

Ich geb`s zu, ich habe die Gnade der früheren Geburt.

Wenn ich heute in den Wirtshäusern und Restaurants seltsamen Buchstaben neben der Angabe des eigentlich Wichtigen, nämlich der Art des kulinarischen Angebots, begegne, frage ich mich ernsthaft, wie ich das bisher überleben konnte.

Ich gehöre einer Generation an, die auch öfter beim Spielen hingefallen ist, sich das Knie aufgeschürft und die Hose zerrissen hat. Das hat das Wohlgefallen der Mutter nicht hervorgerufen, aber auch nicht die blitzartige und gnadenlose Verabreichung von Antibiotika zur Folge gehabt.

Das Knie heilte und Mutter vergaß mit der Zeit, welchen Rabauken sie im Begriffe war, groß zu ziehen.

Und wir alle dieser Generation überlebten gesund und munter bis zur nächsten Hose.

Als Mutprobe haben wir Regenwürmer „gekostet“ unter heldenhafter Missachtung der möglichen Allergene, die in ihnen enthalten hätten sein können.

Bananen und Gurken hatten noch das Recht so zu wachsen, wie sie es eben von Natur aus gewohnt waren zu wachsen.

Obst war oft genug, von außen betrachtet, nicht gerade ansehnlich, von innen aber schmeckte ein Apfel noch nach Apfel und nicht nach wässrigem Zellstoff mit Geschmackverstärker.

Alles Obst war keine Designerstudie sondern einfach gut.

Geraucht haben wir auch – versteckt und in Ermangelung von Zigaretten auch Bambusstücke. Das hat funktioniert, sieht man vom folgenden Bauchweh ab.

Probleme in der Schule zogen den Groll der Eltern, nicht aber den Rechtsanwalt gegen den Lehrer nach sich, unter dem Motto: „Mein Kind ist selbstverständlich nicht so faul, dumm und unintelligent, wie es der Lehrer (selbstverständlich auch die Lehrerin) behauptet. Dagegen muss man mit allen Mitteln vorgehen.“

Mir hat Mutter noch lakonisch und kurz angebunden die Möglichkeit des Lernens ins Ohr geflüstert.

Menschen in meiner Umgebung, die eine Unverträglichkeit hatten, wussten das und gingen damit sehr selbstverständlich um. Es gab nie Probleme.

Der norwegische Zuchtlachs war kein Problem, weil es ihn noch nicht gab und Separatfleisch war unbekannt.

Hoch ungesättigte Fettsäuren wie Olivenöl waren zu teuer und wurden durch ungesundes Schweineschmalz ersetzt.

Wie habe ich nur alle diese Attacken auf die Gesundheit überlebt?

Jetzt aber haben wir den Buchstabensalat auf der Speisekarte, denn das Leben ist ein gefährlicher Zustand und mit Hilfe der pharmazeutischen Industrie und ihrer Helfer, den Medizinern, muss dem entgegengetreten werden.

Manchmal auch mitdem Hinweis, dass im Falle der Wissbegierde seitens des Gastes der Kellner in der Lage sei, in souveräner Weise über die Gefahren von Allergenen aufzuklären. Er hat das ja schließlich studiert, oder?

Das Erschreckende dabei sind gar nicht die Buchstaben, sondern ist die Ideologie im Hintergrund.

Wir werden, durch alle nur denkbaren und nicht denkbaren Regeln, entmündigt zu willenlosen und nicht denkenden Kreaturen, die zur Eigenverantwortung nicht mehr fähig sind.

Wir sollten froh sein, dass uns jemand das Denken abnimmt.

Gegen diese Entwicklungsind die 10 Gebote der Kirche eine geradezu leicht fassliche Bedienungsanleitung für das Leben.

Willenlos, leicht regierbar, alles abnickend, das ideale Mitglied einer Gesellschaft, die immer an Mehrwert denkt, nur nicht bei der Selbstverantwortung. Denn eine denkende Gesellschaft ist schwierig zu beherrschen.

Im Lokal:

Die Suppe sollten sie nicht essen, weil H

Die Hauptspeise ist problematisch weil A-G, das muss fast Verwicklungen ergeben.

Von der Nachspeise ist abzuraten, weil die Möglichkeit von Z besteht.

Am besten sie essen Grießkoch und warten auf ihren Tod.

Mahlzeit!

Ihr Kommentar in meinem Gästebuch....

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